Dass in diesem Jahr das internationale Erzählfestival Feuerspuren anders ausfallen würde, um nicht auszufallen, war allen Beteiligten klar: „Seit März sind wir dabei, das Festival immer wieder umzuplanen. Von Plan A zu Plan B zu Plan C“, so Julia Klein, künstlerische Leitung des Festivals. Und so entwickelten die Veranstalter*innen Ideen, wie die Feuerspuren am Sonntag, den 8. November 2020 als corona-konformes Erzählfestival trotzdem stattfinden konnten: Per Livestream aus dem Torhaus Nord, analog in Eins zu Eins-Begegnungen von Erzähler*innen und Zuhörer*innen und als individueller Spaziergang zu Leuchtinstallationen und Lichtobjekten im Stadtteil.
Bereits am Vortag hatte Elif Patarla ihre Nachbarschaft mit Selbstgebackenem zur Erzählrunde eingeladen. Heute trifft sie sich mit Türnachbarin Ella Springer im offenen Laubengang ihres Wohnblocks.
Passend zum diesjährigen Festivalmotto Geschenkt! erzählt Elif, warum Geschenke für sie hauptsächlich Stress bedeuten. Andererseits sind sie fester Bestandteil des jährlichen Heimatbesuchs in Bulgarien wie die Wiedersehensfreude, die zahlreiche Verwandtschaft und die noch zahlreicheren Gepäckstücke. Nur in diesem Jahr blieb die Kleinfamilie coronabedingt in Deutschland. Mit einem extra angemieteten Wohnmobil ging es zum Campingurlaub an den Bodensee. Entspannung wollte sich nicht einstellen. Als einzige „Ausländer“ fühlte sich Elif die ganze Zeit beobachtet – bis sie feststellen musste: die neugierigen Blicke der anderen galten vor allem ihrem nagelneuen Wohnmobil.
Um die Ecke erzählt Irmtraut N´ten, die sich mit 65 Jahren zum ersten Mal an den Feuerspuren beteiligt. Ihre Gastgeber*innen Thomas Berger und Petra Böttcher haben in der Nachbarschaft bereits für Stühle, Roibuschtee und Muffins gesorgt. Irmtraut ist ebenso begeisterte Erzählerin wie Radfahrerin und so handelt ihre Geschichte vom ollen Drahtesel und seiner Madamche. Das neunmalkluge Rad philosophiert über Tramschienen, störrische Fußgänger auf Radwegen und die himmlische Stille auf der Autobahn während des Lockdowns. Fortsetzung folgt, denn inzwischen war das bremisch-berlinernde Duo schon in Worpswede. Petra Böttcher vermisst das Erzählfestival, die Privatvorstellung in den eigenen vier Wänden hat sie gerne unterstützt.
In einer kleinen idyllisch gelegenen Sackgasse nicht weit entfernt vom Trubel und Verkehr der Gröpelinger Heerstraße wohnen Christian und Lena Pichler. Auch sie beteiligen sich regelmäßig mit Geschichten und Musik an den Feuerspuren. Heute in der Zwei-Haushalte-Version erzählt Lena eine Geschichte von Geschenken, willkommenen und vergifteten, die sich als Mythos von Prometheus und Pandora entwickelt. Zuhörer Immanuel Dompreh aus Ghana schmunzelt: „Prometheus hat den Menschen aus Lehm geformt? In Afrika denken sie, das steht in der Bibel.“
Nachdem Lena ihre Geschichte beendet hat, holt sie das Tablet hervor und schaltet den Feuerspuren-Livestream ein. Produziert wird dieser ein paar hundert Meter weiter im Torhaus Nord in der Liegnitzstraße. 12 Darsteller*innen präsentieren dort live Musik und Erzählkünste. Dazwischen gibt es Filme und andere Einspieler aus dem Quartier – auch weil der Raum regelmäßig gelüftet werden muss. 13.000 Interaktionen auf facebook und 550 views auf YouTube erreicht das digitale Event am Ende des Tages. Gerade erzählt Stefanie Becker eine Geschichte aus dem Liegnitzquartier. „Die ist so gut,“ meint Lena anerkennend. Die Beiträge der Videowerkstatt von Europa Zentral verfolgen die drei aufmerksam. Was sagen die Leute, die man zwar auf der Straße sieht, aber ansonsten nicht kennt? In den Herbstferien haben Kinder – „um nicht so viel mit dem Handy zu spielen“, so Stoyan – als Kunstprojekt einen Container auf dem Liegnitzplatz gestaltet. Christian ist beeindruckt.
Im Vorgarten eines ähnlichen schmucken Hauses in der Geeststraße hat sich die Nachbarschaft bereits versammelt. Es wird gelacht, Apfelpunsch und ein Feuerkorb vorbereitet. Dann beginnt Tatjana Blaar ihre Erzählung, die vom Tod der Mutter und Neid unter Geschwistern, von Einsamkeit und heimlichen Süchten handelt. Sind Geschenke Zeichen von Zuwendung oder doch nur Entlastung für das eigene schlechte Gewissen? Harter Stoff an einem sonnigen Nachmittag. Als Tatjana endet, ist es für einen Moment ziemlich still.
Zurück ins Liegnitzquartier begleite ich Karin Lion und ihre Mutter. Auch Karin hat eine Geschichte vorbereitet, die sie beim Skypen mit ihrem Enkel entwickelte und anschließend einer Freundin erzählte. Beide freuen sich jetzt bei einem Abendspaziergang „ein paar Lichter zu gucken“. „Das macht die Feuerspuren im Stadtteil sichtbar“, sagt Andrea Munjic von Kultur Vor Ort. Auch ohne Feuershows, Laternenumzug und Feuerwerk soll Gröpelingen leuchten.
An verschiedenen Orten wurden Lichtinstallationen aufgebaut, die Kinder und Jugendliche in den Herbstferien bauten. Der Kunstkiosk Brombergerstraße leuchtet als überdimensionales Geschenk. Den Liegnitzplatz illuminieren verschiedene Objekte. Auf der Fassade des Mosaik Bewohner*innentreffs wird eine interaktive Videoinstallation gezeigt. Besonders stimmungsvoll ist der Innenhof des Atelierhaus Roter Hahn gestaltet. Auf dem Boden leuchten zahllose Lampions der Kinderkunstwerkstätten. Dazu gibt es Poesie auf Licht:Wort:Objekten aus der Jugendwerkstatt im MO 43.
„Ich bewundere, dass Kultur Vor Ort in diesem Jahr die Feuerspuren veranstaltet hat,“ meint Karin Lion beim Abschied. „Diese Kreativität hilft dabei Probleme leichter zu nehmen.“
Text: Eva Determann
Fotos: Marianne Menke, Claudia Hoppens