Den Blick für Neues schärfen, sich auf andere Lebenswelten einlassen, hingehen, hinsehen, zuhören: Dazu lud die 19te Ausgabe des internationalen Erzählfestivals Feuerspuren, das 2025 unter dem Motto sichtbar stand, am 09.11.2025 in Gröpelingen ein. Geboten wurde viel entlang der Lindenhofstraße: fantasievolle Lichtobjekte, Feuershows, Kulinarisches, ein Laternenumzug zum Abschluss, aber vor allem Erzählungen. 72 Geschichten an 18 festen und mobilen Orten, live präsentiert von 200 Menschen so unterschiedlich wie der Stadtteil selbst. Mehrere Tausend Besucher:innen waren gekommen, um zu sehen und zu hören, was Gröpelingen zu sagen hatten.
Zum Beispiel die Teilnehmer:innen eines Integrationskurses der VHS-West. Seit Mai erst lernen sie die Grundlagen der deutschen Sprache, nun stehen einige von ihnen zum ersten Mal auf der Bühne, um in eine für sie fremden Sprache zu performen. Zusammen mit Kursleiterin Mirjam Dirks (als Paula) begrüßen sie freudig das Publikum, darunter erkennbar viele Verwandte, manche über Handy zugeschaltet. Kichernde Kinder warten gespannt darauf, die Erwachsenen in einer neuen Rolle und Sprache zu erleben. Mit Paula, der Postbotin für positive Post, werden Geburtstagsgrüße und Genesungswünsche vorgetragen. Abdel schreibt an seine Kinder im Sudan: „Ihr müsst eure Zimmer aufräumen, sonst dürft ihr nicht mit dem Handy spielen.“ Ist das positiv? Multinationale Einhelligkeit: Erziehung ist immer positiv. Nach kleineren Sketchen zu Spielzeugtieren, Eitelkeit und Nutella tanzen am Ende wirklich alle!, Publikum wie Erzähler:innen, den unverwüstlichen Ententanz. Live gestreamt in alle Welt. Was für ein Auftakt! Fiel der Auftritt schwer? Yusuf hat dazu eine klare Meinung: Nein, nur die deutsche Grammatik ist schwer.






Oder Ela Fischer. Wenn die Königin der Kaiserpinguine in den Waschsalon lädt, füllt sich dieser innerhalb von Minuten. Zwischen rotierenden Trommeln und 150 erwartungsvollen Zuschauer:innen reflektiert Multitalent Ela über die Superpower der Pinguine und das verschwundene Pinguin-Wahrzeichen vom Bürgermeister-Koschnick-Platz. Selbst der anonyme Künstler Mohammed Smith, Urheber der Skulptur, outet sich als Fan und schrieb sie vor dem Auftritt an. Ist er/sie etwa anwesend? Während Ela auf einer Eisscholle durchs Meer der schönen Worte treibt, wandert mein Blick durch die Reihen. Wer könnte sein? Die Frau im Wollpulli? Der grau melierte Mann mit Hornbrille? Der blonde Hipster mit Vokuhila? Die Alte auf dem Monobloc-Stuhl? Ach nein, das ist ja Baba Marta (siehe hier). Jemand aus der WG, die eine Bierbank belagert? Der Junge, der angestrengt wegschaut? „Schön, dass du da bist“, sagt Ela.
Leichter Nieselregen über der Lindenhofstraße, die sich jedoch mit Einbruch der Dunkelheit schlagartig füllt. Eine Passantin aus einem anderen Stadtteil Bremens erzählt, dass sie jedes Jahr extra für die Feuerspuren nach Gröpelingen kommt: „Mir gefällt hier alles, das ist für mich wie ein Ausflug in eine andere Welt.“






Ein Stück weiter Richtung Heerstraße wartet eine bunte Menschentraube geduldig auf Einlass zum Bauernhof, die Lieblingslocation vieler Festivalbesucher:innen. Davor die Mitmachstation des Kinderateliers Roter Hahn. Passend zum Motto sichtbar entwickelte Leiterin Kerstin Holst die Idee von inversen Leuchtobjekten, Dinge, die Licht absorbieren und sich am liebsten im Dunkeln verstecken. In schwarzen Boxen lauern von Kindern gestaltete fantasievolle Monster, die mit Taschenlampen entdeckt und zum Leuchten gebracht werden. Dazu können Last-Minute-Laternen gebaut werden, natürlich in Pinguinform.





Sichtbar sein bedeutet herauskommen, coming out, uit de kast komen. Profi-Erzähler Frank Belt, seit 19 Jahren, also seit Beginn der Feuerspuren dabei, hat bislang immer die Geschichten der Anderen erzählt. In diesem Jahr ist seine eigene an der Reihe: Eine leise Zeitreise zu einem Haus auf dem Hügel, ein Priesterseminar und ein Heranwachsender, der ein kleines Geheimnis preisgibt, um ein großes zu bewahren, weil: Schweigen bedeutet Sicherheit. Dank u wel, dat was geweldig!
Um eine andere Formen von Sichtbarkeit geht es in der Station Nie wieder ist jetzt mit Pop-up-Ausstellung auf der Straße. Die Erzähler:innen haben sich mit den Novemberpogromen gegen die jüdische Bevölkerung vor genau 87 Jahren befasst. Sie berichten über das Ereignis, die Schatten der NS-Zeit, aber auch über Widerstand und Solidarität. Karin Gerz erinnert mit eindringlichen Worten an Henny Brunken, die jüdische Zwangsarbeiterinnen in Bremen heimlich mit Essen versorgte und ihnen so „Kraft und Lebensmut“ gab.







Die 19te Ausgabe des Erzählfestivals Feuerspuren war mit über 7.000 Gästen erwartungsgemäß gut besucht. Christiane Gartner, Kultur Vor Ort, ist zufrieden: „Ich habe sehr viele Familien aus dem Stadtteil getroffen, was mich besonders freut. Kinder wie Erwachsene beteiligen sich aktiv an den Feuerspuren. Zusammen gestalten wir die Zukunft Gröpelingens!“
Und Julia Klein, künstlerische Leiterin des Festivals ergänzt: „Mich fasziniert immer wieder, wie sich am Ende die Einzelteile zum Ganzen formen. In einer so brüchigen Zeit ist es nicht selbstverständlich, dass sich Leute in ihrer Freizeit einbringen. Gerade die Beteiligung aus dem Stadtteil – von den Gastgeber:innen bis hin zu den Akteur:innen an den Ständen – zeichnen die Feuerspuren als individuelles Festival aus.“
Text: Eva Determann / Fotos: Jan Meier, Claudia Hoppens und Marianne Menke

