Insider wissen es schon lange und schwören darauf: Die Lange Nacht des Erzählens ist weitaus mehr als bloßes narratives Vorglühen zum Feuerspuren-Festival! Zweieinhalb Stunden voller intensiver Darbietungen boten fünf internationale Künstler:innen am Sonnabend, den 08.11.2025 im ausverkauften Saal des Bürgerhaus Oslebshausen.
Der Ortswechsel sorgte teilweise für Erstaunen, denn seit Beginn des Festivals fand die Veranstaltung im Lichthaus Bremen statt. Nun empfing mit pink-orangen Lichtspots, flackernden Feuerschalen und einer XXL-Champignons Pfanne die Bürgerhaus-Crew erstmalig das neugierige Publikum am Eingang.




Wie alles ist auch der Veranstaltungsort eine Frage der Perspektive: „Mit dem Wechsel der Spielstätte machen wir sichtbar (so das Motto des diesjährigen Feuerspuren), was seit Jahren auf unseren Plakaten steht“, eröffnet Julia Klein, künstlerische Leiterin der Feuerspuren, gut gelaunt den Abend, „das Festival ist eine Kooperation von Kultur Vor Ort und Bürgerhaus Oslebshausen, deswegen sind wir heute Abend hier.“
Und sie legt sofort los mit einer fulminanten Geschichte über den Pinguin, der als Key Visual das Feuerspuren-Plakat ziert. Diesen Pinguin gibt es wirklich. Der anonym arbeitende Künstler Mohammed Smith (benannt nach den verbreitetsten Namen der westlichen und östlichen Welt, so einfach geht friedliche Koexistenz) stellte ihn 2024 als Bronzeskulptur in Gröpelingen auf. Das niedliche Tier hat einen bitteren Hintergrund. Es erinnert an die Toten der Gezi-Park-Proteste 2013 in Istanbul, wo fünf junge Menschen von Sicherheitskräften erschossen wurden. Statt Nachrichten zeigte das Fernsehen Dokumentationen über Pinguine, fortan Symbol für Anti-Erdogan-Proteste. Dass der Gröpelinger Pinguin mangels Standsicherheit allerdings seit über einem Jahr von der Behörde aus dem Verkehr gezogen wurde, ruft sogar den empörten Geist von Alt-Bürgermeister Hans Koschnick auf den Plan. Istanbul und der großen Sängerin Sezen Aksu zollt anschließend Andy Einhorn Tribut mit der Ballade „Kücügüm“. Auch die Beatles und Hank Williams hat der Gitarrist im Gepäck.





Von mangelnder Standfestigkeit gleitet Johanna Wollin über zu dem Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen. Auf verschiedenen Erzählebenen präsentiert sie im virtuosen Wechsel zwischen Deutsch und Spanisch einen Mix aus traditioneller Erzählung und eigener Erfahrung. Welchen Migrationshintergrund hat man, wenn Papa aus Bremerhaven und Mama aus Peru/Italien stammt? Herkunftsstatus? Es ist kompliziert. Ausgrenzung? Garantiert: „Ich hatte halt bei uns auf dem Schulhof die dunkelste Hautfarbe.“ Die klebrige Süße der im Publikum verteilten Schokoküsse erinnern sie immer daran, wie es anfühlt, nicht zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören.
Eine Geschichte, die zwischen der jüngsten Vergangenheit der Corona-Pandemie und uralten Mythen von Walen und Raben oszilliert, performt Katinka Kraft auf Englisch und Deutsch, wobei sie den traditionellen Erzählstoff in amerikanischem Englisch, die zeitgenössische Erzählung auf Deutsch darbietet. Sind gestrandete Wale sichtbare Zeichen einer gestörten Kommunikation durch Sonartechnik und Klimawandel? Kann ein Rabe auf Pilztrip das größte Säugetier der Welt schultern? Eine sprachlich wie inhaltlich anspruchsvolle Darbietung, die von den Absurditäten des Lockdowns, Long-Covid bis hin zu existenziellen Gefühlen wie Einsamkeit und Ausgeliefertsein einen magischen Bogen spannt, um machtvoll abzuheben
Noch prominenter als Koschnick und (zumindest temporär) in Gröpelingen beheimatet, ist die Baba Marta, auf Deutsch „Oma März“, eine Figur der bulgarischen Mythologie, die den Frühling ankündigt. Unerkannt sitzt sie gerne auf einem Monobloc-Stuhl und beobachtet mit wachen Äuglein das Stadtbild. Julia Klein schildert, dass man ihr zu Ehren „Marteniza“, rot-weiße Bändchen webt und verschenkt, die im Frühjahr an blühende Zweige gehängt oder unter Steine gelegt werden. Bei den Bändchen stehen die Farben symbolhaft für rote Wangen und weiße Haare, also für Gesundheit und langes Leben. Musikalisch gerahmt und atmosphärisch verdichtet wird die Erzählung von virtuosem Kopfton-Gesang, den Radka Raykova acapella auf Bulgarisch präsentiert.
Für Glücksgefühle sorgt dann noch mal Johanna Wollin mit ihrer Geschichte von Täubchen und Grille, die mit Chuzpe und der Macht des Universums den Herrschenden ein Schnippchen schlagen.
What the wonderful world! Zur Melodie des Armstrong-Klassikers macht sich ein sichtbar beseeltes Publikum auf den Heimweg. What a wonderful evening!
Text: Eva Determann / Fotos: Tim Lachmann

