Gäbe es einen Soundtrack zum Erzählfestival Feuerspuren, wäre in diesem Jahr der Westernhagen-Klassiker „Zurück auf die Straße“ sicherlich dabei. Denn riesengroß waren Freude und Erleichterung, dass nach zwei Jahren Pandemie das Erzählfestival endlich wieder dort stattfinden konnte, wo es hingehört: auf der Straße!
„Wir haben es gehofft, aber wussten nicht, ob nach zwei Jahren Einschränkung und weiterhin bestehender Corona-Ängste die Menschen zurückkommen,“ so Julia Klein, künstlerische Leiterin der Feuerspuren. Doch sie taten es, auf allen Ebenen als Erzähler:innen, Gastgeber:innen und Besucher:innen.
„Über den Tag verteilt waren sehr viele Menschen aus Gröpelingen unterwegs, besonders viele Kinder, aber auch Zugereiste, die die extra zum Erzählfestival kamen. Die Stimmung war bestens, friedlich, aufgeschlossen, überall glückliche Gesichter und ein Hochgefühl, wir sind wieder da in alter Form.“
„Das Festival lebt von der Resonanz.“ Julia Klein, künstlerische Leitung
Schätzungsweise 5.000 Besucher:innen kamen am Sonntag, den 6. November 2022 in die Lindenhofstraße zum Erzählfestival. Am Abend zuvor war die Lange Nacht des Erzählens auf Reisen als Stadtteilexpedition schon lange vor Veranstaltung ausverkauft.
Am Sonntag gab es neben verkaufsoffenen Geschäften ein Programm mit Lichtobjekten, kulinarischen Angeboten, Feuer-Shows, Tanzeinlagen, Straßenjonglage, Musik und zum Abschluss einen gemeinsamen Lichterumzug.
Aber vor allem wurde erzählt. Insgesamt füllten an die 100 Erzähler:innen 18 Erzählorte über 21 Stunden mit ihren Geschichten. Ob in umgeräumten Geschäften, eigens dafür aufgebauten Jurten, Fahrzeugen, Zelten, Gebetsräumen oder einfach auf der Straße.
„Das Festival ist unprofessionell— im besten Sinne“ Henning, Besucher
Zwischen zwei Erzählsets treffe ich Stefanie und Henning aus Wüstingen, die sich extra mit Freunden aus Huckelriede verabredet haben, um die Feuerspuren und auch Gröpelingen zu besuchen. Bei Tee und Waffeln checken sie nochmal mit dem Handy, welche Erzählstation als nächste auf ihrem Programm steht. Die Neustädter sind zum ersten Mal in Gröpelingen:
„Es gefällt uns. Das Festival ist so unprofessionell, im positiven Sinne, also self-made. Man sieht, wie viel Fantasie und Kreativität überall drinsteckt und hat den Eindruck jede:r im Stadtteil ist in irgendeiner Form beteiligt.“
Ihr Blick bleibt an einer kleinen Karawane hängen, der sich ihren Weg durch die Lindenhofstraße bahnt. Gröpelinger Kinder bauten in den Herbstferien mobile Lichtobjekte bzw. illuminierte Fahrgestelle. Angeführt von einer überdimensionalen Leuchtschnecke werden diese nun im Konvoi durch die Menschenmenge bewegt.
Über dem Eingang der Mevlana-Moschee flackert ein LED-Laufband und wirbt für das Erzählfestival. Auch hier wird heute erzählt. Dazwischen für das Gebet pausiert. Im Vorraum der Moschee gluckert Tee im Samowar, auf den Tischen steht Weihnachtsgebäck. Die Besucher:innen ziehen ihre Straßenschuhe aus und betreten neugierig den Gebetsraum. Dicke, hellblaue Teppiche schlucken den Straßenlärm und sorgen für eine wohlige Atmosphäre.
„Zufälle verändern das Leben“ Meral, Erzählerin
In der Raummitte steht Meral Özkan-Dogmus und erzählt die Geschichte von Gleis 11, dem Synonym für Umverteilung türkischer „Gastarbeiter“ am Münchner Hauptbahnhof. Dort endeten die Züge der Arbeitsmigrant:innen aus Istanbul. Von hier ging weiter mit Nahverkehrszügen zu den Einsatzorten. Aussteigen, Einsteigen, Umsteigen.
Es beginnt eine Reise durch die Zeit, zusammengesetzt aus Anekdoten, die im Familienkreis bewahrt wurden, „denn die Wertschätzung fehlt bis heute“, Zufälle, die nach Bremen führten und aus einem zweijährigen Arbeitsvertrag über 30 Jahre machten. Etwas abseits sitzt eine Frau, die aufmerksam die Reaktionen des Publikums beobachtet und der Erzählerin sehr ähnlich sieht. Meral ist ihre Tochter. „Das ist die Geschichte unserer Familie,“ sagt sie stolz.
„Vielleicht habe ich rechts und links mal was liegen lassen, aber es war gut.“ Paressa, Erzähl-Debütantin
Eine Fahrt durch Europa, die jedoch abrupt an einer Grenze zum Stehen kommt, beschreibt Paressa Daniilidou, die in diesem Jahr ihr Erzähldebüt gibt. Ihre Bühne ist ein 50er-Jahre-Borgward-Bus, den Erhard Flemming von der BSAG liebevoll illuminiert und mitten auf der Lindenhofstraße geparkt hat.
Die wenigen Sitzplätze sind rasch belegt. Und während sich draußen der Geruch von Grillfleisch und Schmalzkuchen mit dem Kerosin der Feuershows mischt, nimmt uns die Erzählerin mit auf eine multilinguale Zug- und Zeitreise voller Melancholie und überraschender Begegnungen.
Nicht alle Geschichten handeln vom realen Unterwegssein. Das Thema Einsteigen-Aussteigen-Umsteigen bietet viele Möglichkeiten. So wie die einer Klimaparabel, die Uli Wischnath vom Verein climactivity im Laden von EP:Friese erzählt.
Umrahmt von schicken High-Tech-Bildschirmen beschreibt er das Dilemma einer Durchschnittsfamilie, die nach einem Blick in die Zukunft ihr Leben von jetzt auf gleich klimafreundlich gestalten muss. Wer ändert was und wer bekommt das Freilos, den Joker? Während ein familieninterner Emissionshandel ausbricht, dreht im Schaufenster die Mini-Modelleisenbahn stoisch ihre Runden.
Damit dies alles so klappt, haben die Teams von Kultur Vor Ort und dem Bürgerhaus Oslebshausen über Tage hinweg Schwerstarbeit geleistet. Insgesamt mussten 18 Erzählorte und vier Bühnen an unterschiedlichen Locations im Stadtteil aufgebaut und ausgestattet werden mit Beleuchtung, Technik, Programmen ganz nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Erzähler:innen und Feuer-Akrobat:innen.
Und auch die bestens besuchten Gastro-Stände benötigen Strom- und Wasseranschlüsse. Von der Ausschmückung des Areals mit Lichtobjekten bis hin zur temporären Sperrung der Lindenhofstraße für den Autoverkehr galt es dabei unzählige Dinge im Blick zu behalten.
Und als gegen Abend das Durchkommen für Passant:innen zunehmend schwieriger wurde, setzte sich mit Samba-Unterstützung der traditionelle Lichterumzug in Bewegung. Die Keimzelle des Festivals bildete sozusagen den Schlusspunkt.
„Gröpelingen strahlt mich an. Alle haben andere, aber tolle Feuerspuren erlebt.“ Christiane, Kultur Vor Ort
Berichten muss ich zum Schluss noch von den Schüler:innen der Vorklassen der Gesamtschule West und Oslebshausen. Sie kommen von überall her, aus der Ukraine, Syrien, Somalia. Einige sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland.
Die Konsonantenkombinationen des Deutschen türmen sich vor ihnen wie das Atlasgebirge und doch stehen sie heute auf dem Bibliotheksplatz und performen zusammen eine Geschichte:
„Kamishibai. Der Feuervogel. Seine Federn leuchten wie Flammen. Er macht die Augen auf. Die Stadt ist voller Lichter und Farben, Musik und Geschichten. Die Menschen auf den Straßen feiern ein Fest. Sie lachen, tanzen und erzählen einander in hundert Sprachen. Er macht die Augen zu.“
Text: Eva Determann